Gefährliches Halbwissen ist ein Ausdruck, den wir gerne und oft verwenden. Aber was bedeutet er eigentlich genau? Ich habe mir einmal ein paar theoretische Gedanken dazu gemacht, die ich gerne mit Ihnen teilen würde. Dazu müssen wir ein wenig weiter ausholen und einen kleinen Umweg machen über unterschiedliche...
Wissensarten
Das Wissen dient dem Menschen dazu, folgende drei Funktionen auszuüben, die ich die drei E´s der Erkenntnis nenne:
- Erkennen ist das Identifizieren von Objekten und das Erfassen von Situationen und damit die Beantwortung der Frage „Was ist dieses Etwas, das ich wahrnehme?".
- Erwarten ist das Vorhersagen von Ereignissen und damit die Beantwortung der Frage „Wie wird dieses Geschehnis ablaufen?".
- Erklären ist das Begründen von Identifikationen bzw. Vorhersagen und damit die Beantwortung der Fragen „Warum ist dieses Etwas eine bestimmte Sache?" bzw. „Warum läuft dieses Geschehnis auf diese Art und Weise ab?".
Daraus ergeben sich die drei Wissensarten Wissen-was (Wissen zum Erkennen), Wissen-wie (Wissen zum Erwarten) und Wissen-warum (Wissen zum Erklären).
Halbwissen
Halbwissen ist Wissen, das in einem bestimmten Kontext lediglich lückenhaft vorhanden ist. Wenn man die oben beschriebenen Wissensarten hinzuzieht, kann man Halbwissen definieren als Wissen, das
nicht über alle Wissensarten ausgeprägt ist.
Daraus lassen sich drei verschiedene Kombinationen sowie deren Gefährlichkeit untersuchen, die im Alltagsleben und in der beruflichen Praxis beobachtbar sind.
Wissen-was ohne Wissen-wie
Jemand kann eine Situation einordnen, aber keine daraus folgenden Ereignisse vorhersagen. D.h. er weiß nur, was zu tun ist, aber nicht wie es durchzuführen ist. Wissen-was ohne Wissen-wie ist
somit häufig durch fehlenden Praxisbezug begründet.
Unter diese Kategorie fällt ein in der betrieblichen Praxis oft anzutreffende „Buzzword-Hörigkeit": Lösungen werden über sogenannte „Buzzwords" - insbesondere Anglizismen - beschrieben, unter
denen sich jeder Beteiligte dann etwas eigenes vorstellt, nicht über konkrete Lösungswege. Die Vorteile, die sich anfänglich durch eine scheinbar schnelle Einigung aller Beteiligten ergeben,
werden zu einem späteren Zeitpunkt durch vermehrten Klärungsbedarf mehr als aufgewogen.
Ebenfalls kann man extreme „Zahlengläubigkeit" darunter fassen, die in Unternehmen häufig anzutreffen ist: Kennzahlen werden übernommen, ohne zu hinterfragen, wie diese Kennzahlen zustande
gekommen sind - Definition der Kennzahl, Erhebung der Daten, Berechnungsalgorithmus, Interpretation der Kennzahl. Dies gilt insbesondere für Zahlen, die von IT-Systemen erzeugt werden.
Der Soziologe Joel Best betont in seinen Büchern "Damned Lies and Statistics" und "More Damend Lies and Statistics" immer wieder den konstrukiven Aspekt von Kennzahlen und Statistiken: „We
sometimes talk about statistics as though they are facts that simply exist, like rocks, completely independent of people, and that people gather statistics much as rock collectors pick up stones.
This is wrong. All statistics are created through people´s actions: people have to decide what to count and how to count it, people have to do the counting and the other calculations, and people
have to interpret the resulting statistics, to decide what the numbers mean. All statistics are social products, the results of people´s efforts." Dasselbe gilt umso mehr für unternehmensinterne
Statistiken, bei denen Kennzahlen erhoben und Benchmarks ermittelt werden.
Daher kommt Best zu der Schlussfolgerung, dass weniger die Frage nach dem "Was", als vielmehr die Frage nach dem "Wie" bei Zahlen entscheidend ist: „In short, the question to ask about any number
- even those that seem most authoritative - is not "Is it true?". Rather, the most important question is "How was it produced?"."
Wissen-was ohne Wissen-warum
„Wissen-was ohne Wissen-warum" lässt sich wie folgt beschreiben: Jemand kann eine Situation einordnen, diese Identifikationen aber nicht erklären. D.h. er weiß zwar, was zu tun ist, nicht aber
warum es zu tun ist. „Wissen-was ohne Wissen-warum" wird typischerweise in Quizsendungen abgefragt. Bei Quizsendungen muss man bekanntermaßen lediglich den gesuchten Begriff erraten, ohne
irgendeine Ahnung davon zu haben, was er bedeutet oder warum dieser Begriff der gesuchte ist und nicht ein anderer. Es lässt sich daher sehr leicht auswendig lernen ("333 bei Issos die
Keilerei"). Leider sind oft Prüfungen und Examen an unseren Schulen und Hochschulen so aufgebaut, dass sie lediglich Wissen-was ohne Wissen-warum abfragen.
Wissen-wie ohne Wissen-warum
„Wissen-wie ohne Wissen-warum" kann man folgendermaßen zusammenfassen: Jemand kann Ereignisse vorhersagen, diese Vorhersagen aber nicht erklären. D.h. er weiß zwar, wie etwas durchzuführen ist,
aber nicht warum es auf diese Weise zu tun ist. „Wissen-wie ohne Wissen-warum" ist „Rezeptwissen", wie es üblicherweise in Kochbüchern dargestellt wird. Hier muss ich dann doch einmal die
Kochprofis lobend erwähnen, die ihr Rezeptwissen immer auch begründen können.
Aus den letzten beiden Kombinationen wird ersichtlich, dass das Wissen für eine bestimmte Problemstellung die richtige Erklärungsstufe haben muss. Dieser Sachverhalt erklärt auch die Spannungen
zwischen Theorie und Praxis, wie in dem bekannten Spruch: „Theorie ist, wenn jeder weiß, warum es funktionieren müsste, aber es funktioniert nicht. Und Praxis ist, wenn es funktioniert, aber
keiner weiß warum."
Unter diese beiden Kategorien fällt insbesondere die Unterschätzung des impliziten Wissens. Denn nicht alles Wissen lässt sich problemlos beschreiben. Polanyi führt den Begriff des impliziten
Wissens („tacit knowledge") mit den Worten ein: „We can know more than we can tell." Implizites Wissen-was ist Kennerschaft („connoisseurship"); Beispiele sind das Erkennen von Gesichtern, das
Testen von Wein oder die Diagnose anhand von Röntgenbildern. Implizites Wissen-wie drückt sich über Fähigkeiten und Fertigkeiten („skills") aus; Beispiele sind Fahrradfahren, das Spielen eines
Musikinstrumentes oder die Bedienung eines Werkzeuges.
Der Glaube an eine totale Explikation des Wissens geht oft einher mit dem Glauben - oder vielmehr der Hoffnung - man könne das Wissen-was und das Wissen-wie von Experten in IT-Systemen abbilden,
ohne das zugrunde liegende Wissen-warum gründlich zu durchdringen. Außerdem werden IT-Systeme bevorzugt, die automatisch und ohne menschlichen Eingriff eine Lösung produzieren - bzw. dies
versprechen - (sogenannte „Knopfdruck"-Lösungen). Dieser Glaube lag auch dem ursprünglichen CIM-Gedanken der „menschenleeren Fabrik" zugrunde, in den jedoch nach und nach humane Aspekte
integriert wurden.
Fazit
Halbwissen führt zu Buzzword-Hörigkeit, übertriebener Zahlengläubigkeit, Quizwissen, Rezeptwissen und dem Glauben an die totale Wissensexplikation. Die Gefährlichkeit dieser "verkümmerten" Wissensbestandteile geht einher mit falschen Entscheidungen, versenkten Projekten und menschlichen Tragödien.
Aus den Ausführungen über das Halbwissen lässt sich die Faustformel ableiten: Je mehr Wissensarten man in einem Kontext besitzt - am besten Wissen-was mit Wissen-wie und Wissen-warum - desto verlässlicher ist das Wissen.
Hinweis: Die Idee des Halbwissens habe ich zum ersten Mal in der Zeitschrift SEM-Radar dargestellt.
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