Im Jahr 2002 erschien in der Zeitschrift Information Research ein Artikel von Professor Wilson mit dem Titel „The nonsense of knowledge management“. Darin geht er mit Wissensmanagement hart ins Gericht. Ich steckte damals in den letzten Zügen meiner Dissertation zum Thema Wissensmanagement in der Produktentwicklung und war fest entschlossen, mich durch kritische Stimmen nicht auf den letzten Metern aus der Bahn werfen zu lassen. Daher habe ich den Artikel lange Zeit ignoriert.
Professor Wilson hält Wissensmanagement für einen von Beratern kreierten „management fad“, der sich im Wesentlichen aus den beiden Punkten Informationsmanagement und dem effizienten Management von Arbeitspraktiken zusammensetze. Bei den beiden Punkten kritisiert er Folgendes:
- Bei vielen Veröffentlichungen wurde Information einfach durch Wissen ersetzt. Dies nennt Wilson „search and replace marketing“. Dadurch hat im Wesentlichen die IT-Branche vom Thema Wissensmanagement profitiert. Da Information fast synonym mit dem Begriff Daten verwendet wurde, musste für Informationssysteme eine neuer Begriff her, der wieder etwas Glanz in das angestaubte Geschäft bringt: Wissenssystem.
- Bei den Communities of Practice kritisiert Wilson den utopischen Ansatz einer Organisationskultur, die auf die Autonomie des Einzelnen setzt und den Mitarbeitern Zeit gibt, ihre Expertise auszutauschen. Stattdessen seien Unternehmen vom kurzfristigen Sahreholder Value-Gedanken geprägt, der diesem Ansatz entgegenstehe.
Insgesamt fördere Wissensmanagement laut Wilson die Illusion „’mind’ becomes ‘manageable’, the content of mind can be captured or down-loaded and the accountant´s dream of people-free production, distribution and sales is realized – ‘knowledge’ is now in the database, recoverable at any time.”
Professor Wilson spitzt das ganze Thema natürlich zu. Mittlerweile habe ich jedoch aus eigener leidvoller Erfahrung erkannt, dass tatsächlich beim Thema Wissensmanagement einiges im Argen liegt. Dazu drei Beispiele aus meiner Tätigkeit:
- Bei einem Vortrag in einem Wissensmanagement-Forum habe ich ein Beispiel vorgetragen, bei dem ich im Rahmen eines Projektes aus Daten Wissen entwickelt hatte in Form einer Formel zur Ermittlung von Maschinenleistungen. Obwohl beim allseits bekannten Wissensmanagement-Modell nach Probst „Wissen entwickeln“ eine der Funktionen ist, fragte ein Teilnehmer verwundert: „Was hat das jetzt mit Wissensmanagement zu tun?“
- Bei einer Veranstaltung zum Thema Wissensbewertung wurden in den Vorträgen nur Kriterien vorgestellt, die eigentlich IT-Systeme bewerten (wie z.B. Ausfallsicherheit oder Usability). Als ich in meinem Vortrag ein Beispiel brachte, in dem wir zu bewerten versucht hatten, ob unser Wissen alle möglichen Einsatzfälle abdeckt, sagte ein Teilnehmer verwundert: „Oh, Sie haben versucht, die Qualität des Wissens zu messen. Darauf sind wir noch gar nicht gekommen.“
- Bei einer Diskussion auf einem Wissensmanagement-Forum beklagte sich ein frustrierte Wissensmanager darüber, dass er über die ganzen Wissensmanagement-Ansätze wenig verändern konnte, und sagte schließlich: „Wenn ich zu entscheiden hätte, dann würde ich mich selber streichen.“
Ich habe aufgrund dieser Erfahrungen mittlerweile den Verdacht, dass wir statt Wissensmanagement etwas betreiben, das ich Cargo-Kult-Wissensmanagement nennen möchte. Über den Cargo-Kult schreibt Richard Feynman in seinen Lebenserinnerungen „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“: „In der Südsee gibt es bei bestimmten Völkern einen Cargo-Kult. Während des Krieges sahen sie, wie Flugzeuge mit vielen brauchbaren Gütern landeten, und nun möchten sie, dass das wieder geschieht. So sind sie übereingekommen, Landebahnen anzulegen, seitlich der Landebahnen Leuchtfeuer anzuzünden, eine Hütte aus Holz zu bauen, in der jemand mit einem hölzernen Apparat sitzt, der wie ein Kopfhörer aussieht und in dem Bambusstöcke als Antennen stecken – das ist der Fluglotse -, und sie warten darauf, dass die Flugzeuge landen. Sie machen das jede Nacht. Die Form ist perfekt. Es sieht genauso aus, wie es früher aussah. Aber es funktioniert nicht. Es landen keine Flugzeuge.“
Ähnlich ist es beim Wissensmanagement, wie es bisher oft betrieben wurde: Wir basteln uns teure IT-Systeme und nennen Wissenssystem. Wir betreiben Communities of Practice und setzen auf die Zwanglosigkeit der Teilnahme in einem Umfeld von Zwang. Die Form ist perfekt. Wir verwenden alle Rezepte und Formen des Wissensmanagement. Aber es funktioniert nicht. Es landet kein Wissen.
Mir geht es also darum, dass bei der grundlegenden Ausrichtung des Wissensmanagements etwas nicht stimmt. Es geht mir nicht darum, die „Wissenssysteme“ zu verbessern oder weitere utopische Organisationsansätze zu entwickeln. Das wäre so, als würde man den „Fluglotsen“ in der Südsee einen besseren Kopfhörer verkaufen. Meines Erachtens haben wir ein grundlegendes Problem. Wir sind sozusagen in die falsche Richtung marschiert und müssen nun zunächst zum Ausgangspunkt zurück.
Ich plädiere daher, dass wir uns zurückbesinnen auf die Fragen, die direkt mit dem Kern der Sache zusammenhängen – dem Wissen -, von dem wir uns im Rahmen der meisten Diskussionen zu weit entfernt haben. Und mit den Menschen, in deren Köpfen das Wissen entsteht. Deshalb sind für mich zwei Fragestellungen wichtig, die meines Erachtens immer noch nicht befriedigend gelöst sind:
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Wie wird aus Daten Wissen?
Dabei geht es darum, Wissen zu entwickeln, nicht Wissen zu entdecken. Also um das, was die Philosophen mit dem Begriff „Erkenntnistheorie“ beschreiben. Und auch noch einmal um die grundlegende Frage, was Wissen von Daten unterscheidet. Der erste Fehler beim Wissensmanagement ist laut Larry Prusack (im Artikel „The Eleven Deadliest Sins of Knowledge Management“, California Management Review) „Not developing a working definition of knowledge“. Diese Definition sollte allerdings anders als die bisherigen Definitionen (siehe z.B. D-A-CH Wissensmanagement Glossar der GfWM) stärker auf die Funktionen des Wissens abheben, die Wissen von Information und Daten unterscheiden, damit wirkungsvolle Methoden der Wissensentwicklung entwickelt werden können. -
Wie kann man Wissen mit anderen teilen?
Hier geht darum, Wissen zu teilen, nicht Wissen zu verteilen. Wissen kann mit nicht in kleine Kästchen packen und weiterreichen oder mit einem Trichter in einen Kopf füllen. Außerdem geht es um die grundlegende Frage nach Wissensarten, die beim Teilen von Wissen von Bedeutung sind (z.B. implizit / explizit, Wissen-was, Wissen-wie, Wissen-warum). Wir bewegen uns im weiten Feld der Kommunikations- und Lerntheorien.
Da ich mich an anderen Stellen bereits über beide Themen ausgelassen habe, möchte hier nur auf meinen Artikel „Das Wissens-Spielfeld im Unternehmen gestalten“ in der Zeitschrift LO – Lernende Organisation (Ausgabe 34) und auf meinen Blogbeitrag „Gefährliches Halbwissen“ verweisen. Dies sind natürlich nur erste Ansätze. Weitere Diskussionen müssten folgen…
P.S.: Die Idee zum Titel dieses Beitrags kam mir bei der Lektüre des oben erwähnten Buches von Richard Feynman, der in dem Kapitel „Cargo-Kult-Wissenschaft“ pseudowissenschaftliche Vorgehensweisen kritisiert.
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Erich Feldmeier (Donnerstag, 21 Oktober 2010 11:51)
Zum Punkt 2: Wie kann man Wissen teilen?
immer wieder und immer noch wird die historische, evolutionäre und organisations-psychologische Komponente, also bessr: der interdisziplinäre Ansatz, übersehen:
http://ed.iiQii.de/gallery/VictimsOfGroupThink/Scharfrichter_wikipedia_org
http://ed.iiQii.de/gallery/VictimsOfGroupThink/HeldDerArbeit_ddrtechnik_de
'Spiel-Theoretisch' lautet die beste / optimale Verhaltens-Strategie ganz zweifelsfrei:
Zusammenarbeit verweigern !!! vgl. R.D.Precht: Über die Kunst kein Egoist zu sein
I. & I. Welpe: Netzwerken für Egoisten
E.Feldmeier: Sonntags Reden, montags Meeting
Carsten Deckert (Samstag, 23 Oktober 2010 13:02)
Lieber Herr Feldmeier,
in dem Buch „Knowledge Unplugged“ von Jürgen Kluge et al. wird das Gefangenendilemma aus der Spieltheorie auf das Wissensmanagement übertragen (Infos zum Gefangendilemma: http://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenendilemma).
Die Mitspieler sind in diesem Fall die Mitarbeiter des Unternehmens, nicht Gefangene – wobei das in manchen Firmen vielleicht das gleiche ist. Statt „schweigen“ setze man „Wissen teilen“ und statt „gestehen“ „Wissen horten“.
Nun ist es für das Unternehmen sicherlich das Beste, wenn beide Mitarbeiter ihr Wissen teilen. Wenn aber ein Mitarbeiter sein Wissen teilt, der andere aber sein Wissen hortet, dann ist der erste Mitarbeiter der Depp und der zweite hat einen Vorteil, ohne sein Wissen preiszugeben. Daher ist es für beide Mitarbeiter erst einmal sicherer, ihr Wissen zu horten, wodurch dann eine Negativspirale entsteht.
Das Funktionieren des Gefangenendilemmas ist aber an gewissen Bedingungen geknüpft: Zum einen wird das Spiel nur einmal gespielt – oder zumindest nicht oft. Zum anderen dürfen die Gefangenen nicht miteinander kommunizieren.
Daraus ergeben sich dann auch die Möglichkeiten, die Negativspirale des Hortens von Wissen zu durchbrechen bzw. gar nicht erst in Gang kommen zu lassen: Den Mitarbeitern muss klar sein, dass sie mehrmals miteinander arbeiten werden, sodass sie einen Anreiz zum Teilen ihres Wissens zu haben, um „tit for tat“ auszuschließen. Und die Mitarbeiter müssen oft miteinander reden – am besten von Angesicht zu Angesicht, um Vertrauen aufzubauen.
Beste Grüße
Carsten Deckert